Zu schockierend sind die Bilder aus diversen Reitsport-Disziplinen aller Stufen, wo Pferde mit aufgerissenen oder zugeschnürten Mäulern, Schlaufzügeln und scharfen Gebissen Höchstleistungen bringen sollen. Viele sehr junge Reiter möchten ohne Gewalt, Zwang und Einengung auskommen, und deshalb auf das Gebiss verzichten, um ihrem Pferd etwas Gutes zu tun. Und auch bei den Reitern, die längst zum Teenager-Alter raus sind, findet das gebisslose Reiten zumindest als Alternative immer mehr Anklang.
Gebissloses Reiten ist im Trend
Autorin: Karin Hufschmid
Zu schockierend sind die Bilder aus diversen Reitsport-Disziplinen aller Stufen, wo Pferde mit aufgerissenen oder zugeschnürten Mäulern, Schlaufzügeln und scharfen Gebissen Höchstleistungen bringen sollen. Viele sehr junge Reiter möchten ohne Gewalt, Zwang und Einengung auskommen, und deshalb auf das Gebiss verzichten, um ihrem Pferd etwas Gutes zu tun. Und auch bei den Reitern, die längst zum Teenager-Alter raus sind, findet das gebisslose Reiten zumindest als Alternative immer mehr Anklang.
Doch so gut die Vorsätze auch sind, so falsch kann man das Reiten ohne Gebissstück angehen. Denn auch pfiffige Verkäufer und Marketingspezialisten haben den Trend längst erkannt und verkaufen alles mögliche, mit dem man angeblich ein Pferd reiten – oder zumindest steuern und bremsen – können soll. Aber wie macht man es denn richtig? Wie wählt man den richtigen Zaum, worauf achtet man beim Kauf, und was ist für das Pferd verständlich und sinnvoll? Wie so oft ist die Basis einer guten Entscheidung, sich etwas Wissen anzueignen. Über die Herkunft der Zäumungen, die Wirkungsweise, die Materialen.
Gebissloses Reiten ist nicht neu
Auch wenn der moderne Trend neuartig und revolutionär daherkommt, ist der Ursprung sehr alt. In ganz vielen Reitkulturen wurde schon vor langer Zeit erkannt, welche Vorteile Kopfstücke ohne Gebisse bringen. Geht man in der Zeit gar richtig weit zurück, so kommt man sogar zu Zäumungen, die verwendet wurden, als Metall noch schwer verfügbar, verarbeitbar oder bezahlbar war, und man sich deshalb möglichst auf Materialien wie Seil, Leder und Rohhaut beschränkte. Es entstanden diverse Kappzaum-Varianten (Wiener, Caveçon, Serreta, Pluvinel, ….), die klassische Hackamore mit Bosal, und unterschiedliche Reithalfter aus Leder oder Seil. Und selbst als metallene Mundstücke verbreitet waren, wurden die Jungpferde häufig ohne Gebiss geschult und ausgebildet.
Die Reitstile
Bei der Verwendung der gebisslosen Zaumzeuge hat jeweils der Reitstil die Machart geprägt. So spielt es bei deren Auswahl eine grosse Rolle, ob mit losem Zügel über Neckreining und kaum Zügelkontakt geritten wird, oder mit feiner steter Verbindung zur Pferdenase. Ob der Zaum mehrheitlich zur Kontrolle von Richtung und Geschwindigkeit verwendet wird, oder zur Erarbeitung von feinen Manövern, gymnastizierenden Lektionen und Versammlung. Ob eine gebisslose Trense zu Pferd und Reiter passt, hängt also immer auch davon ab, wie Pferd und Reiter ausgebildet sind und sich weiterbilden. Denn jeder Pferdebesitzer ist schlussendlich auch Pferdetrainer.
Die Einwirkung
Wer sich für einen passenden gebisslosen Zaum entscheidet, sollte sich bewusst sein darüber, wo dieser wirkt. Die hauptsächliche Wirkung ist in aller Regel auf den Nasenrücken (gelb). Hierbei muss besonders darauf geachtet werden, dass das empfindliche dünne Nasenbein (rot) nicht zu viel Druck erfährt, da dort der Schädel besonders empfindlich ist. Viele gebisslose Zäume wirken zudem auf den Kinnbereich (blau) und/oder das Genick (grün). Letzteres vor allem bei Varianten mit Dreh- und Hebelwirkung. Eine Verteilung des Drucks auf mehrere Stellen kann den Vorteil haben, dass nirgends punktuell zu massiv eingewirkt wird, da der Druck verteilt wird.
Gerade bei Dreh- oder Hebelgebissen muss man sich aber bewusst sein, dass schnell sehr viel mehr Gesamtdruck entsteht, als der Reiter dies in der Zügelhand empfindet. Auch ist der gleichzeitige Druck an mehreren Stellen für viele Pferde zu einschränkend und stört sie mehr als bei der feinen Kommunikation hilfreich zu sein.
Natürlich wird zudem auch auf die ganze Seite des Schädels (vom Maulwinkel bis zur Ganasche) je nach Zaum an verschiedenen Stellen eingewirkt. Sidepulls, Über-Kreuz-Zäume, klassische sowie natural Hackamores und viele mehr wirken auf die Kopfseite, insbesondere bei einem direkten Zügel mit nach innen geführter Hand.
Es liegt in der Verantwortung jedes Reiters, sich bewusst zu sein, wo die gewählte Zäumung wirkt. Daraus ergibt sich, wo breite, weiche Materialien Sinn machen, und wo für mehr Präzision auch dünnere, härtere Materialien zum Einsatz kommen dürfen. Aus ethischen Überlegungen sollte auf dünne, harte und somit scharfe Teile immer da verzichtet werden, wo es nur um Kontrolle geht. Jeder Zaum sollte zur feinen, freundlichen Kommunikation und nur im äussersten, seltenen Notfall zur Kontrolle verwendet werden. Gibt es regelmässig solche Notfälle oder viele Missverständnisse, so muss die Ausbildung des Pferdes generell überdacht werden, anstatt sich schärferer Hilfsmittel zu bedienen.
Die Varianten
Es gibt überall auf der Erde unzählige Varianten von gebisslosen Zäumungen. Die im deutschsprachigen Gebiet am häufigsten verwendeten sollen hier mit ihren Vor- und Nachteilen beschrieben werden. Um den Eindruck einer Wertung zu unterbinden, werden die Zäumungen in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt. Die Bewertung der Vor- und Nachteile sowie aller neutraler Merkmale kann und muss der Pferdebesitzer selber übernehmen und verantworten.
Klassische oder auch kalifornische Hackamore
Die klassische oder auch kalifornische Hackamore besteht mindestens aus Bosal (geflochtenes, tropfenförmiges Rohhaut-Nasenstück), Hanger (Kopfstück) und Mecate (Zügel, in der Regel aus Pferdehaar oder auch Seil) und wird in der Reiterwelt oft etwas unpräzise nur Bosal genannt. Sie ist eine sehr alte, vorallem in den USA sehr stark verbreitete Gebisslos-Zäumung, welche heute für die Ranch-Arbeit zu Pferde wie auch für den Reitsport und das Freizeitreiten verwendet wird. Der grösste Vorteil ist, dass die Pferde vom Anreiten bis zu sehr hohen Lektion sehr fein ausgebildet werden können. Die Hackamore ist ausserdem unglaublich vielfältig und vielseitig. Je nach Oberfläche, Kern-Flexibiliät, Durchmesser, Gewicht und Balance des Bosals eignet es sich für unzählige verschieden Pferdetypen, Einsatzgebiete und Reitstile. Vom einhändigen Arbeitsreiten über die Ausbildung inkl. Gewöhnung an Gebiss und Kandare bis hin zum zweizügligen gemütlichen Ausritt oder auch Springsport eignet sie sich für fast alles.
Doch auch diese Zäumung hat ihre Nachteile. Einerseits ist das langlebige Bosal inklusive Mecate in sinnvoller Qualität nur für mehrere Hundert Euro erhältlich und relativ schwierig als gute Gebrauchtware verfügbar. Die Anpassung des Bosals an die Pferdenase ist so wichtig wie komplex – zumindest für Neulinge. Und so vielseitig die Zäumung auch ist, so spezifisch ist ihre Anwendung. Spezieller Unterricht zum Erlernen des fairen Gebrauchs ist deshalb unerlässlich. Selbst für sehr geübte Reiter ist für eine Umstellung meist mehr als ein Wochenendkurs nötig. Und da die Verbreitung in Europa noch eher mässig ist, ist auch entsprechender guter Unterricht nicht an jeder Ecke zu finden.
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Halsseil und Halsring
Das Halsseil und der Halsring sind nur im weitesten Sinne überhaupt noch Zäumungen, da sie kein Kopfstück enthalten. Die Signalgebung erfolgt über einen steiferen Halsring (gehärtetes Seil, Rohhaut, ummantelter Draht oder Geflecht, Kunststoff) oder eine flexible Halsschleife (Seil, Leder) über den Hals. Der Vorteil ist, dass das Pferd nicht am Kopf manipuliert wird und der Reiter somit grösstenteils über Sitz und Stimme einwirken muss. So kann einerseits dem Pferd maximale Freiheit und Selbständigkeit gewährt werden, und andererseits lernt der Reiter mehr zu spüren und zügelunabhängiger zu reiten. Ein Nachteil ist die mangelnde Einwirkungsmöglichkeit im Noftall, zum Beispiel in einer Schrecksituation oder bei Widersetzlichkeiten und Missverständnissen.
Wann und wo mit Halsring geritten wird, sollte deshalb immer gut überlegt und vorbereitet sein. Ohne eine zusätzliche Zäumung als Sicherheitsseil sollte das Reiten mit Halsring nur auf eingezäunten Flächen (Reitplatz, Weide) geübt werden. Ein weiterer Nachteil ist es, dass insbesondere steifere Halsringe erheblich mehr Einwirken können, als der Reiter vermuten mag. Oft wird der Halsring anstatt an der Halsbasis (möglichst nahe der Brust und Schulter) viel zu hoch angewendet, in der Halsmitte oder gar fast auf Kehlkopfhöhe. Dort vermag er dem Pferden grosses Unbehagen und auch Schmerzen zuzufügen.
Kappzaum
Der Kappzaum wird ebenfalls häufig zum Reiten verwendet. Grundsätzlich ist ein Kappzaum mit dem Sidepull oder Lindel gleichzusetzen. Kappzäume mit schweren Eisenteilen erlauben weniger feine Signaldifferenzierungen als zum Beispiel ein Caveçon oder Pluvinel. Ein Caveçon besteht meist aus einer ummantelten Metallkette, während ein sogenannt “schwerer Kappzaum” aus einem festen, breiten Metallbügel mit bis zu drei Gelenken besteht. Der Pluvinel Kappzaum kommt ganz ohne Metall aus. Während die schweren Kappzäume eher eng anliegen müssen, finden bei Caveçon und Pluvinel zwei oder mehr Finger Platz zwischen Nasenriemen und Pferdenase.
Ein Nachteil der schweren Kappzäume ist, dass die Nasenteile für das Reiten oft knapp oder gar zu kurz sind. Es muss deshalb beim Kauf gut darauf geachtet werden, dass die Backenstücke nicht am Jochbein scheuern oder zu nah am Auge zu liegen kommen. Ein Vorteil gegenüber Sidepulls ist die Doppelfunktion. Man kann zwischen Bodenarbeit und Reiten wechseln, ohne die Zäumung wechseln zu müssen. Dies ist nicht nur praktisch, sondern vor allem für Pferd und Mensch sehr einfach: Neue Lektionen und Verfeinerungen können vom Boden vorbereitet und erarbeitet werden, und danach ohne unnötige Veränderung der Ausrüstung und somit Einwirkung unter dem Sattel weitergeführt werden.
Knotenhalfter
Das Knotenhalfter wird nicht selten auch zum Zaum umfunktioniert. Dazu werden Zügel entweder mittig unter dem Kinn oder seitlich (zum Teil mit speziellen Ringen) eingehakt. Der Vorteil dieser Zäumung ist, dass sie aus einem Knotenhalfter schnell und billig gebastelt werden kann und so kein zusätzliches Geld für einen Zaum aufgebracht werden muss. Ausserdem ist sehr direkte und somit scharfe Einwirkung möglich, was sehr viel Kontrolle über das Pferd erlaubt. Der Nachteil ist, dass die wenigsten Reiter die Balance, Erfahrung und das Feingefühl dazu haben, um selbst mit einem hochwertigen Knotenhalfter fein einzuwirken. So wird solche eine Zaumkonstruktion häufig übermässig scharf, wirkt aber für den Reiter trügerisch fein.
Jedem nicht ausserordentlich fortgeschrittenen Reiter empfiehlt sich deshalb eher die Verwendung einer korrekten Natural Hackamore, mit welcher viel differenzierter und feiner gearbeitet werden kann (siehe separate Beschreibung). Dasselbe gilt auch für das Rai-Bändele, auch wenn es in Stärke und Steifheit etwas anders gestaltet ist, als das Knotenhalfter.
Kolumbianische Bosal
Das Kolumbianische Bosal hat mit dem Bosal der kalifornischen Hackamore nichts zu tun. Es ist im weitesten Sinne ein Sidepull mit zwei Zügelpaaren. Eines eher hoch an der Pferdenase für Stellung und Biegung, eines Richtung Kinn für Versammlung und Beizäumung. Das Nasenteil kann unterschiedlich geformt sein und aus unterschiedlichen Materialien. Mit breiterem Lederteil ist es quasi ein verfeinertes Sidepull. Der Vorteil lieg in den unzähligen differenzierten Zügelsignalen, die so möglich sind. Der Nachteil ist lediglich, dass meist nur erfahrene Reiter so differenziert einwirken können, und aufgrund der eher geringen Verbreitung auch entsprechender Unterricht nur schwer zu finden ist.
Mechanische Hackamore
Die Mechanische Hackamore heisst auch Aussenkandare und bezeichnet jede gebisslose Zäumung mit Helbelwirkung auf Nase, Kinn und Genick. Leider wird sie oft einfach nur Hackamore genannt, was aber schlicht falsch ist, da die klassische Hackamore über ein Bosal funktioniert und mit der mechanischen Hackamore rein gar nichts gemein hat. Bei der Aussenkandare können Ober- und Unterbaum ganz unterschiedlich sein in Länge, Längenverhältnis, Form und Gestaltung, was auch die Wirkung gemäss den physikalischen Hebelgesetzen verändert. Es gibt sie sowohl kombiniert mit Kappzäumen als auch Gebissen (mit Doppelzügeln), und dabei mit und ohne Verbindung zwischen den Unterbäumen. Am Kinn wird sie mit Kette oder Lederriemen verschnallt, und auch die Nasenriemen gibt es in unterschiedlicher Ausführung. Am verbreitetsten sind eher weiche, breite Ledernasenteile.
Ein Spezialfall ist das Cavemore, wo eine mechanische Hackamore mit einm Caveçon kombiniert vierzüglig geritten wird. Der Vorteil der Aussenkandare ist die massive Kontrolle, welche auf das Pferd ausgeführt werden kann. In erfahrenen Händen können damit „gebiss-saure“ und of traumatisierte Pferde auch ohne Gebissstück kontrolliert werden. Der grösste Nachteil ist es, das die enorme Kraftentfaltung auf Pferdenase, Kinn und Genick sowie der unkoordinierte Verteilung oft unterschätzt oder schlicht ignoriert oder nicht erkannt werden. Ungleiche oder einseitige Zügelführung ergibt dabei genauso wenig sinnvolle Signale wie die seitliche direkte Zügelführung nach innen, welche sogar zu schmerzhaftem Abkippen der Metallteile führen kann. Doch auch einhändig geführt macht die Mechanische Hackamore ausser zur Kontrolle wenig Sinn. Bei einer normalen Kandare mit Stangengebiss spürt das Pferd schon bei durchhängendem Zügel die Lage der Stange und kann sich so stets selber ausbalancieren, damit die Stange waagerecht und locker im Maul liegt. Doch ohne Gebissstück ist diese Wirkung nicht gegeben, es bleibt das pure Kontrollinstrument. Auch nette Bezeichnungen wie Minni-Hackamore, Baby-Hackamore, Barock-Hackamore oder Semi-Hackamore ändert daran nichts. Und insbesondere mit harten, dünnen Nasenstücken wie Metallbügeln, Rohhaut oder Seilen ist die Aussenkandare ein Werkzeug, deren Verwendung aus ethischer Sicht als sehr fraglich bezeichnet werden darf.
Natural Hackamore
Die Natural Hackamore wird im deutschen Sprachgebrauch auch Reit-Knotenhalfter (Reitknoti), Häcki oder Schnur-Zaum genannt und fand vor allem durch Parelli und andere Natural Horsemanship Lehren in Europa Verbreitung. Sie ist eine aus der klassischen Hackamore abgeleitete Einsteigerzäumung, die einerseits eine sehr differenzierte und gefühlvolle Einwirkung ermöglicht, dem Reiter andererseits auch ein effektives Kontrollinstrument in die Hände gibt. Die Zügel werden bei der Natural Hackamore unter dem Kinn des Pferdes mittels eines schweren Knotens befestigt. Aus diesem Grund hat eine Natural Hackamore auch andere Abmessungen als ein Knotenhalfter und sollte deshalb nicht einfach aus einem solchen selbst gebastelt werden. Die Signale werden bei der Natural Hackamore über das Verschieben des Knotengewichtes an die Pferdenase und das Genick übermittelt.
Zusammengefasst bedeutet dies: zeigt der Knoten etwas nach links oder rechts, soll das Pferd auch den Kopf nach links oder rechts drehen und je nach Sitzeinwirkung auch in diese Richtung abbiegen. Knoten nach hinten (Richtung Hals) bedeutet je nach Sitzhilfe eine Verlangsamung bis zu einer tieferen Gangart oder mehr Aufrichtung und Lastaufnahme der Hinterhand. Zeigt das Pferd die gewünschte Reaktion, werden die Zügel stets wieder hingegeben.
Vorteile: Selbst wenn der Reiter in einer Notsituation die Zügel als Kontrollinstrument braucht, hat das Pferd immer eine „Vorwarnung“. Vor der direkten Kraftübertragung auf die Pferdenase muss sich immer erst der Knoten etwas bewegen. Dies erlaubt dem Pferd stets, schon früh auf das feine Signal zu reagieren, es wird nicht mit deutlicherer Einwirkung „überfallen“. Die Natural Hackamore erlaubt zudem eine für das Pferd sehr einfach verständliche Überführung des am Boden am Knotenhalfter Gelernten auf das Reiten. Sehr geübten, ausbalancierten und feinfühligen Reitern erlaubt es sogar das Reiten mit permanentem feinem Zügelkontakt. Dies ist aber wirklich nur für sehr fortgeschrittene Reiter zu empfehlen. Der grösste Nachteil der Zäumung ist sicherlich die mögliche Schärfe der Einwirkung. Dem Reiter wird ein Werkzeug in die Hand gegeben, mit welchem das Pferd leicht zu kontrollieren ist, welches dabei aber auch beträchtlichen Schmerz zufügen kann. Ausserdem verführt die scheinbar simple Machart leider sehr oft zum Kauf von minderwertiger Ware. Etwas Seil und die korrekten Knoten machen noch lange keine Natural Hackamore.
Eine brauchbare Natural Hackamore besteht aus hochwertigem, ca. 6mm durchmessenden Seil (auf der Nase und im Genick doppelt geführt), guten und korrekt geknoteten Seilzügeln und genau passenden Abmessungen passend zur Grösse des Pferdekopfes. Jegliche zusätzliche Knoten (insbesondere auf dem Nasenstück), Perlen, Umwickelungen, Lederlaschen, Metallösen, Schnallen und anderer störender Zierrat verfälscht die Wirkung und macht die korrekte Einwirkung oft unmöglich. Wichtig ist bei der Natural Hackamore (wie auch beim Knotenhalfter für die Bodenarbeit) der korrekt geknotete Verschluss (siehe Bild). Er sorgt einerseits dafür, dass der Knoten sich während der Arbeit weder lösen (und der Zaum sich somit öffnen), noch so sehr zuziehen kann, dass man ihn nicht einfach wieder öffnen kann. Ausserdem unterbricht ein falscher Knoten die durchgehende Signalwirkung ans Genickstück, was insbesondere bei feinen Impulsen ein spürbarer Nachteil sein kann.
Räder-Zäume
Die Räderzäume (Glücksrad/LG, Stern, Star, Blume, Flower, RG und Co) sind links und rechts ins Reithalfter eingeschnallte Räder, meist mit 6 Speichen und 6-8cm Durchmesser. Nasen-, Kinn- und Backenrimen sowie Zügel werden in diese Räder eingeschnallt. Einige der Räder sind mit Hebel für die Zügel erhältlich, wodurch sie zu einer mechanischen Hackamore (Aussenkandare) werden, so dass auch alle Attribute und Vor-/Nachteile der Aussenkandare auf die Hebel-Räder zutreffen. Wird ohne Nutzung von Hebeln das Zügelpaar hinter dem Kinnriemen verschnallt, so wird der Räderzaum zu einer Art Sidepull. Nachteil ist, dass hierbei die Räder keinen Nutzen haben, jedoch stören können. Bei direkter nach innen führender Zügelführung spreizen sich die Räder ab, oder sie drücken oder scheuern. Sie machen ausserdem den Nasen-Kinn-Riemen instabil, so dass das ganze relativ eng verschnallt werden muss, um ein Rutschen zu verhindern.
Häufig rutscht auch der Nasenriemen tiefer als vom Reiter gewünscht, und mit höherer Verschnallung käme das Rad ans Jochbein. Werden die Zügel eine Speiche vor dem Kinnriemen verschnallt, so hat der Zaum eine leichte Drehwirkung (sozusagen die kleinste Form der Hebelwirkung bei Zäumen). Durch das Drehen verteilt sich der Druck auf Nase, Kinn und Genick, ohne jedoch die Kraft insgesamt zu verstärken. Dies kann in speziellen Fällen ein Vorteil sein, wenn ein Pferd so viel negative Erfahrung mit Druck auf die Nase gemacht hat, dass es überreagiert oder sehr stumpf ist. Nachteilig ist wie bei der Hebelwirkung, dass es kaum möglich ist, mit beiden Händen exakt dieselbe Signalstärke zu erreichen, wodurch der Druck auf den ganzen Kopf unregelmässig verteilt wird und zum Verwerfen verführt. Streng genommen ist deshalb nur eine einhändige Zügelführung sinnvoll. Und auch bei dieser Verschnallung kommt es nicht selten zu einem Abkippen der Räder, einem Verrutschen, sofern nicht eng verschnallt, oder zu Reibungen am Jochbein.
Begriff Sidepull
Der Begriff Sidepull bezeichnet streng genommen jegliche Zäumung ohne Gebiss, welche für eine seitliche Einwirkung gedacht ist. Das Sidepull in zig Unterarten ist vermutlich die am weitesten verbreitete Gebisslos-Zäumung. Das klassische Sidepull kommt aus der Westernreitweise und hat ein Nasenstück aus gehärtetem Seil oder geflochtener Rohhaut. Damit das steife und relativ locker verschnallte Nasenstück nicht nach vorne-unten kippt, gabeln sich die Backenstücke meist in der typischen Y-Form.
Ein Vorteil der Zäumung ist es, dass sie gut zweihändig wie auch einhändig und mit sehr leichten Signalen geritten werden kann. Der Nachteil ist, dass sie nur für geübte Reiter und die impulsweisen Reitarten geeignet ist. Das Reiten in Anlehnung ist damit ethisch fragwürdig.
Lindel oder lindel-artige Sidepull
ist die weichere, feinere Variante und nach Linda Tellington-Jones benannt. Anstelle eines harten Nasenstückes wirkt es über einen flachen und/oder gepolsterten und möglichst weichen Nasenriemen. Der Vorteil ist, dass damit ein gebissloses Reiten mit steter Zügelverbindung (aufgenommenen Zügeln), wie in vielen europäischen Reitweisen verbreitet, auch für durchschnittliche Reiter und sogar Anfänger möglich ist. Es ist fast unmöglich, dem Pferd grosse Schmerzen damit zuzufügen, und dennoch erlaubt der Zaum eine klare Einwirkung und auch Anlehnung und Beizäumung. Ein Nachteil ist die begrenzte Feinheit der Signale, vor allem bei sehr weichen und gepolsterten Nasenteilen, die wenig Differenzierung zulassen. Damit das Nasenteil nicht verrutscht, wird es auch häufig sehr eng verschnallt.
Dies kann aber verhindert werden, wenn man ein Lindel verwendet, dessen Nasenstück in einem einzigen Band rund um Nase und Kinn führt und insbesondere an den Seiten nicht durch Ringe oder Schnallen durchbrochen ist. Zudem kann das Kopfstück durch einen Ganaschen- statt Kehlriemen gesichert werden, so kann es nicht zu nah ans Auge rutschen. Leider sind gute, feine und hochwertige Lindelzäume sehr schlecht erhältlich und bewegen sich preislich meist im dreistelligen Bereich – wie eine normale Lederzäumung für ein Gebissstück auch.
Eine kleine Warnung am Rande: Wie bei allen anderen Gebisslos-Zäumungen spielt das Material eine sehr wichtige Rolle. Ein Gebiss-Zaum muss lediglich das Gebiss an Ort und Stelle halten, hat aber (ausser bei Hebelwirkung) kaum Einwirkung. Anders ist das bei gebisslosen Zäumungen, wo der Zaum die Signale direkt übermittelt. Leider schiessen Anbieter von preisgünstigen „Basteleien“ aus kostengünstigen Materialen und Fertigungen geradezu aus dem Boden. Meist aus Biothane oder geflochtenen Seilmaterialien. Von solchen Konstruktionen ist abzuraten, nicht selten sind sie zwar pflegeleicht und günstig, aber auch sehr instabil, oft unpassend und aus viel zu dünnen Riemen. Das Anbrigen von zusätzlichen Polsterungen mindert zwar den Druck, macht feine Signale aber unmöglich. Gerade auch nur verknotete oder genietete Zäume eignen sich bestenfalls für ein hübsches Fotoshooting in der Lieblingsfarbe.
Stallhalfter
Das Stallhalfter ist von der Wirkung her im weitesten Sinne ein Sidepull. Da die wenigsten Stallhalfter jedoch eine genügende Passform und einen geeigneten Nasenriemen aufweisen, sollten sie ausser für gelegentliche Spazierritte nicht als vorwiegend eingesetzte Zäumung verwendet werden.
Über-Kreuz-Zäumungen
Die Über-Kreuz-Zäumungen führen die Zügel unter dem Pferdekopf gekreuzt, entweder um die Ganaschen wie beim Dr. Cook Bitless Bridle, oder um das Kinn. Der Vorteil liegt darin, dass der Pferdekopf nicht in eine Richtung „gezogen“, sondert von der Gegenseite her „geschoben“ wird. Die Nachteile sind der Rundum-Druck um den Pferdekopf, was eine konstante Zügelverbindung unsinnig macht und bei einigen Pferden verständlicherweise zu Widersetzlichkeit führt. Bei einigen Varianten kommt es zudem vor, dass die Zügel über Kreuz nicht gut genug gleiten, so dass ein Nachgeben der Hand nur sehr zeitverzögert ankommt, oder gar nicht.
Spezialfälle
Als spezielle Zäumungen seien hier noch einige der Vollständigkeit halber erwähnt.
Das gebisslos verwendbare Rambo Micklem Multibridle ist der Versuch, mehrere Zäumungen in einer zu vereinen. Der Vorteil ist sicher die praktische Idee und die tieferen Kosten als für einzelne Zäume. Der Nachteil ist, dass der Nasenriemen unten sehr tief am Genick verläuft und gegen das Verrutschen oft eher eng verschnallt werden muss.
Beim Vosal werden die Zügel – wie bei Natural Hackamore und klassischer Hackamore – unter dem Kinn angebracht. Dazu hat es aber eine Art V-förmiges Metallstück unter dem Pferdekinn, welches bei Zügeleinwirkung aufs Kinn wirkt. Auch diese Zäumung ist mit Vorsicht zu geniessen und gehört nur in die Hände von überdurchschnittlich guten Reitern.
Das Geitner Trainingshalfter wurde für die Bodenarbeit entworfen, wird von gewissen Reitern aber auch als Zaum verwendet. Gemäss Aussage von Michael Geitner sollte dies nur durch erfahrene Reiter getan werden. In der Wirkung ist es – wie auch jedes Stallhalfter – dem Sidepull am nächsten.
Dasselbe gilt für Zäume, die selber gemacht werden, indem das Reithalfter aus einem normalen Trensenzaum gelöst und mit Zügeln versehen wird.
Neben all diesen unzähligen Zaum-Möglichkeiten darf aber nicht vergessen werden, dass zwar gute Reiterei durch schlechte oder ungeeignete Ausrüstung zunichte gemacht werden kann, jedoch auch die beste Ausrüstung nie ein fehlendes Gefühl oder geringe Erfahrung wettmachen kann. Dazu braucht es jahrelangen guten Unterricht, viel Arbeit an sich selbst und noch mehr Verständnis für das Wesen des Pferdes.
Weiterführende Lektüre auf 4my.horse
Gebisslose Zäumung – Das Für und Wider
Autorin: Nicole Audrit, mein-pferd
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