Wenn Pferderennen artgerecht praktiziert werden können, wie müsste das Setting aussehen, damit man von pferdegerechten Rennen sprechen kann?
Lahmt die Schweiz hinterher?
Pferde-Rennsport kritisch hinterfragt
Autor: Sacha Jacqueroud für den Schweizer Tierschutz STS
Noch ein Peitschenhieb, dann noch einer. Erschöpft ist das junge Tier im Ziel. Die Stute hat das Ziel als dritte durchlaufen. Nicht schlecht, aber mit etwas mehr Training noch ausbaufähig, denn die Stute ist erst zweieinhalb Jahre alt.
Eine Szene aus einem weit entfernten Land ohne gesetzliche Grundlagen zum Schutz von Tieren? Weit gefehlt. Diese Szene kann sich genau so auf Schweizer Pferderennbahnen abspielen, ohne dass man auch nur gegen ein Gesetz verstösst. So empörend das klingen mag, so heikel ist es nur diesen Aspekt zu beleuchten. Pferderennsport kann man durchaus so gestalten, dass ein pferdegerechtes Leben möglich ist.
Lässt keinen kalt, das historische Match Race von 1938 zwischen dem Westküsten-Star Seabiscuit und dem Triple Crown-Sieger War Admiral. Ein Rennen für die Ewigkeit.
Ist Pferdeleiden die Norm?
Doch ganz generell gilt im Pferdesport, sobald Geld und Prestige Einzug halten, verblassen die pferdegerechten Grenzen so sehr, wie der gegenüberliegende Teil der Pferderennbahn im Morgendunst.
Was bräuchte der Schweizer Pferderennsport um pferdegerecht zu sein? Sind die Rennpferde mit Magengeschwür, Erschöpfungstod , Beinbruch oder gravierenden Verhaltensstörungen in der Schweiz eher die Regel oder die Ausnahme?
Die Antworten sind schwer zu finden. Zum einen sind die verbandseigenen Statistiken erst seit 2014 vorhanden oder veröffentlicht. Zum anderen werfen die Zahlen Fragen auf. Des weiteren ist die Auskunftsfreudigkeit bei den Exponenten des Rennsports sehr gering. Dr. med. vet. Meier, ein passionierter Rennpferde-Besitzer, aber auch ein Tierarzt mit dem Blick für das Wohl der Pferde, ist einer der wenigen Mutigen, die sich einer kritischen Betrachtung des Pferderennsports stellt, aber auch aufzeigt, dass nicht das Pferderennen per se das Problem ist, sondern das „Setting“, in welchem dieses stattfindet und für die Pferde zum Leidensweg wird.
Weitere Kritiker finden wir in Deutschland. Hier haben mehrere Medien schon genauer hingeschaut und hinterfragt; in der Schweiz hingegen, finden sich nur wenige Artikel und Beiträge und meist als Reaktionen nach Unfällen oder Vorfällen, wie sie etwa im Jahre 2016 im Aarauer Schachen oder im Jahr 2017 am White Turf in St. Moritz entstanden sind.
Was ist pferdegerecht?
Wenn also Pferderennen artgerecht praktiziert werden können, wie müsste das Setting aussehen, damit man von pferdegerechten Rennen sprechen kann?
Laut Dr. med. vet. Meier ist eine wichtige Komponente, dass die Pferde behutsam an ein Rennen herangeführt werden, dass sie die körperliche Verfassung und die Bereitschaft mit bringen und nicht dazu gezwungen werden müssen. Ein behutsames Training kann die physische Verfassung stärken und die Verletzungsrisiken minimieren, weiss Meier.
Eine weitere Komponente ist das Geläuf. Die Beschaffenheit der Rennbahn selber spielt eine wichtige Rolle, um Unfälle zu vermeiden.
Zudem sollte laut dem erfolgreichen deutschen Trainer Markus Klug das Exterieur stimmen. Ohne geeignetes Exterieur hat ein Pferd auf der Rennbahn nichts verloren.
Das wichtigste aber ist, dass die natürlichen und sozialen Bedürfnisse der Pferde erfüllt werden können. Ob Rennpferd oder Rentner: Sozialkontakt mit Artgenossen, genügend Freilauf, Fütterung auf lange Zeit und auch als Beschäftigung, Licht und Luft sind Grundbedürfnisse der Pferde.
Die Haltung
So gesehen müsste man die Haltung fast aller Sportpferde in Frage stellen. Als soziale Wesen verlangen Pferde nach Kameraden, Auslauf und Platz, damit sie sich als Flucht- und Herdentiere wohl fühlen können. Die Einzelhaltung in Boxen ist so ziemlich das Gegenteil davon, aber Alltag vieler; auch vieler Rennpferde; nicht zuletzt deshalb, weil man das Verletzungsrisiko der „Geldanlage Rennpferd“ möglichst gering halten möchte.
Aber Rennpferde sind Vollblüter mit ausgeprägter Lauffreudigkeit. Da darf man zumindest die Vermutung hegen, dass viele Verhaltensstörungen der Pferde auf die ungeeignete Einzelhaltung zurück zu führen sind. Nicht im Pferderennsport per se, aber im Pferdesport generell. Wenn man nun aber Pferde kopflos in eine Herde schickt, kann der damit verbundene Stress genau so hoch und die Erholung und die ruhige Nahrungsaufnahme gestört sein. Sportpferde artgerecht zu halten, heisst also weder Einzelhaft noch blindes Herdenleben; sondern eine auf das entsprechende Pferd angepasste Haltung, die dessen soziale und natürliche Bedürfnisse so abdecken kann, dass dieses sich wohl fühlt und keine Verhaltensstörungen entwickelt.
Es heisst, dass der Galopprennsport selber der Natürlichkeit der Pferde entgegen komme. Aber wenn wir die vielen Tiere sehen, die sich weigern in eine Startbox zu gehen, obschon sie schon viele Rennen gelaufen sind, darf man diese Freiwilligkeit und Natürlichkeit zumindest für einzelne Pferde hinterfragen. „Diese haben Angst vor dem was folgt; für gewisse Pferde fühlt sich das Rennen wie eine Art Todesflucht an,“ ist sich Dr. Maximilian Pick, ehemaliger Renn-Tierarzt aus München, sicher. Sicher ist aber, dass sich Rennpferde ein wenig freier bewegen können als andere Sportpferde und weniger ins Korsett gezwängt werden. Aber dafür müssen sie schon von Kindsbeinen an Leistungen erbringen und gehen damit ein deutlich höheres Risiko für lebensbedrohende Verletzungen ein.
Was also pferdegerechter ist, ist etwa so schwer zu beantworten, wie den Sieger eines Rennens vorauszuahnen.
Das Alter
Pferde werden in der zweiten Hälfte ihres zweiten Lebensjahres in der Schweiz zu Rennen zugelassen. Die vielverbreitete Meinung lautet, dass Vollblüter nicht mit Warmblüter vergleichbar seien und mit zwei Jahren schon sehr weit entwickelt seien. Doch Dr. Maximilian Pick ist skeptisch: „Damit ein Pferd mit zweijährig ein Rennen laufen kann, wird es mit 18 Monaten angeritten. Das ist ohne jeden Zweifel zu früh, da sind die Pferde noch kleine Kinder.“
Auf der anderen Seite weiss Dr. Meier, dass eben das behutsame Training den Athleten darauf vorbereitet, unfallfrei und stressfrei galoppieren zu können. Kommt dazu, dass wir in der Schweiz wenige solcher Rennen kennen. Dennoch bleiben unausgewachsene Pferde für Knochen- und Sehnenschäden sicherlich besonders gefährdet.
Das Regelwerk
Rennpferde kosten viel Geld. Je früher sie auf der Rennbahn laufen, desto grösser die Chance, dass sie sich vielleicht rentieren; wenngleich das nur einem sehr kleinen Teil der Pferdebesitzer vergönnt ist. Auch das ist ein Grund für das frühe Einsetzen der Pferde. Die Regeln in der Schweiz lauten: ab zweieinhalb Jahren darf ein Pferd starten, im Vergleich müssen die deutschen Vollblüter bereits einige Monate früher „sich an die Atmosphäre gewöhnen.“
Eine provokative Vermutung stellt Pick auf, in dem er sagt: „Viele Pferde laufen oft aus Angst so schnell, der Jockey macht es nicht aus.“ Einen wissenschaftlichen Beweis hierfür gibt es nicht. Aber seine Vermutung wird gestützt durch die Tatsache, dass viele Pferde verletzungsbedingt und früh die Karriere beenden oder dass viele Pferde an Magengeschwüren leiden. Doch auch diese stressbedingten Geschwüre sind wissenschaftlich noch nicht genau eruierbar, so dass auch hier nur eine Vermutung angestellt werden darf.
Noch schwieriger wird es, die seelischen Schäden zu eruieren. Sie sind mit Nichten weniger tragisch als die körperlichen. Diese Trauma könnten von der schlechten Haltung und der ständigen Forderung nach Höchstleistung entstehen, meint Pick.
Reglementarisch zu hinterfragen ist auch der Einsatz der Peitsche. Dreimal darf der Jockey in der Schweiz mit der Peitsche auf das Pferd einwirken. Dass diese „Aufmunterung“ wie es im Fachjargon heisst, wirklich etwas bringt, bezweifeln mittlerweile etliche Rennsport-Kenner.
Das Tierschutzgesetz als Lösungsansatz
Dr. Meier ist sich sicher, dass Pferderennsport in der Schweiz artgerecht betrieben werden kann und von vielen auch schon so betrieben wird. Nicht zuletzt deshalb weil bei uns viele Amateure aus Liebe zum Sport und nicht primär aus wirtschaftlichen Gründen Rennpferde halten. Aber Rennpferde leben trotz alle dem nahe am Tod. Nicht alle schaffen es, heil aus der aktiven Zeit heraus zu kommen und viele Auswüchse stellen grundlegende Fragen an die Pferdegerechtigkeit, die es dem Pferd zuliebe zwingend zu beantworten gilt.
Um also Rennen als natürlichen Pferdesport in der Schweiz mit gutem Gewissen bestaunen zu dürfen, müsste die Schweiz sich folgenden Themen stellen:
- sich für eine artgerechte Haltung der Sportpferde einsetzen
- Anreize schaffen, dass die Pferde nicht so früh geritten werden müssen, nur um wirtschaftlich zu sein
- Hilfsmittel im grossen Stil eindämmen oder verbieten.
Letzteres macht die Schweiz teilweise. So etwa mit dem Verbot des Zungenabindens seit nun bald 20 Jahren; oder mit der Doping Null-Toleranz, welche in der Schweiz gilt. Aber im Gegensatz zu Norwegen, ist nach wie vor der Einsatz der Peitsche erlaubt. Ein Verbot derselben wird von immer grösseren Kreisen gefordert. Aber so lange die grossen Rennsportländer mit den grossen Preisgeldern die Peitsche als Symbol des Rennsports hoch halten, dürfte das Verbot eines kleinen Landes wie Norwegen wenig Signalwirkung haben. Auch die Schweiz ist im Pferderennsport kein Hotspot. Aber dem einzelnen Pferd kann mit diesem Verbot geholfen werden. Die Schweiz sollte sich also durchringen, die Peitsche zu verbieten.
Und zu guter Letzt, sollten regelmässige Statistiken über Unfälle und den Verbleib der Rennpferde geführt werden, damit man auch überprüfen kann, welche Massnahmen greifen.
Der Tierschutz ist gefordert
Wenngleich die Schweiz im internationalen Vergleich auch gewisse Punkte gut umsetzt, so haben diese Recherchen doch festgestellt, dass viele Bereiche fragwürdig sind. Denn im Tierschutzgesetz heisst es, dass jedes Tier artgerecht gehalten werden muss. Und hier kann man ansetzen und sich in den Bereichen Alter, Hilfsmittel, Haltung sowie Training und Wettkampf bei jedem einzelnen Punkt die Frage stellen: ist das artgerecht?
So entsteht ein Dialog zwischen dem Rennsport und der Gesellschaft; ein Dialog, der dem Pferd hilft, dass sukzessive ein artgerechtes Leben mit Pferderennsport entstehen kann. Dr. Meier zeigt sich optimistisch und meint: “Das ist möglich.“
Noch befinden wir uns in der Startbox und es sind noch viele Meter zu galoppieren, bis die Ziellinie naht. Der eingangs erwähnten zweijährigen Stute dürften diese Gedanken nichts mehr bringen. Aber den noch vielen ungeborenen Athleten vielleicht um so mehr. Es sollten möglichst keine Rennpferde den heute noch so häufigen Weg vom Athleten zum Pflegefall durchlaufen müssen, sondern den Weg vom Athleten zum gesunden und fitten Rentner.
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Quellen:
- Interview mit Dr. med. vet. Hanspeter Meier
- Mehrere Rennsport-Reportagen der Redaktion Quarks beim Westdeutschen Rundfunk
- Dokumentarfilm „Das kurze Leben der Rennpferde“ des Norddeutschen Rundfunks
- BloodHorse Daily
- NZZ
- Aargauer Zeitung
- Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV
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