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Aufgeben ist keine Option

von | Apr 15, 2023 | Psychologie, PASSION | 0 Kommentare

Wenn das Pferd nein sagt

Autorin: Karin Rohrer, PASSION

Kathrin Hügli war sich schon im Kindesalter sicher, dass sie einmal ein Pferd besitzen würde und diesen Traum erfüllte sie sich auch. Im Springsattel fühlte sie sich zu Hause, bestritt aber auch Dressurprüfungen. An Reiten ist jedoch aktuell kaum zu denken, denn mit ihrem jetzigen Pferd Sandor fängt sie bei Null an und freut sich über jeden noch so kleinen positiven Schritt.

Nach der Gärtner-Lehre arbeitete Kathrin Hügli auf einem Gutsbetrieb im Jura und erlernte den Umgang mit Pferden. Schon bald war sie stolze Besitzerin eines vierjährigen Schweizer Warmblut-Wallachs und teilte die Leidenschaft für die Pferde mit ihrem Vater, welcher sich im Alter von 58 noch eine Stute kaufte und mit dem Reiten anfing. Kathrin Hügli absolvierte die Springlizenz und war viel auf Concours, genoss ihre unkomplizierten Pferde. Vor allem zum späteren Mecklenburger Wallach ihres Vaters baute sie eine spezielle Beziehung auf und als dieser vor drei Jahren infolge einer schweren Kolik erlöst werden musste, fiel die Reiterin in ein Loch, konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, wieder ein Pferd anzuschaffen. «Ich hatte wie eine Scheibe vor den Augen, dachte eher an eine Reitbeteiligung als an einen neuen Vierbeiner und litt unter dem Verlust dieses Wallachs namens ‘Deodatus’», erzählt die 57-Jährige.

Sandor mit Karin Hügli

Ein wackeliger Start

Ihrer älteste Schwester Susan, die zwar keinen Bezug zu Pferden hatte, blieben die inneren Kämpfe von Kathrin Hügli nicht verborgen und so setzte sie alle Hebel in Bewegung und schenkte ihr im März 2019, drei Wochen nach dem Ableben von ‘Deodatus’ einen dunkelbraunen Wallach, ebenfalls aus der Mecklenburger Zucht und mit einer Top-Abstammung. Sandor war bei seiner Ankunft ziemlich schmal, etwas steif und zeigte einen Hahnentritt. «Mein Vater wie auch mein Ehemann haben eher negativ auf Sandor reagiert, da eigentlich beide schon mit dem Thema ‘eigenes Pferd’ abgeschlossen hatten. Ich war noch nicht ganz offen für ihn, fühlte mich halt noch immer sehr verbunden mit dem verlorenen Pferd». So gab Kathrin Hügli sich und dem jungen Sandor Zeit, etwas anzukommen und mit den zwei Ponys im Stall verstand er sich gut. Aber die frisch gebackene Pferdebesitzerin fühlte nach und nach, dass irgendetwas mit Sandor nicht stimmen konnte, da sich der sensible Wallach auffällig benahm.

Panische Angst und Unsicherheit

Kathrin Hügli wollte dem Wallach die neue Umgebung zeigen, ging mit ihm am Zaumzeug spazieren: «Er versuchte immer, hinter mir zu laufen und ich hatte grosse Mühe, ihn nach vorne zu bringen. Als ich mit ihm traben wollte, tickte er aus und riss sich los. Glücklicherweise konnte ich ihn wieder einfangen und beruhigen. Aber ich merkte, dass eine grosse Unsicherheit in ihm steckt». Die Reiterin wollte sich professionelle Hilfe holen und gemeinsam mit einer Bereiterin arbeiteten sie Sandor in der Reithalle an der Longe, was recht gut funktionierte. Sobald es jedoch um das Aufsteigen ging, versuchte Sandor wegzurennen, bekam panisch Angst. Auch beim Reinholen von der Weide musste Kathrin Hügli mit ganz langsamen Bewegungen auf ihn zu, damit sie ihn einfangen konnte. Sandor zeigte richtiggehend Angst, wenn jemand auf ihn zuging und auch in der Boxe verkrümelte er sich in die hinterste Ecke, zitterte bei Berührungen und hatte angespannte Muskeln: «Ich war unsicher, wie ich meinem Wallach helfen könnte und auch meine Reitlehrerin wusste nicht mehr weiter».

Von Grund auf ein liebes Pferd

Seitens Tierspital Zürich erhielt Kathrin Hüglis Schwester den Rat, Kontakt aufzunehmen mit Ruth Herrmann, einer Tierärztin dipl. Verhaltensmedizin STVV. Seit April 2019 arbeiten die beiden nun zusammen, haben mit Sandor ganz vorne wieder angefangen, quasi bei null. «Ruth Herrmann meinte, der Wallach sei wohl bei der Ausbildung wie überfallen worden und seiner Reaktion sage man ‘Freeze’, also ‘eingefroren’, er habe einfach alles über sich ergehen lassen. Anscheinend wurden seine Ängste und Unsicherheiten beim Anreiten zu wenig berücksichtigt». Sandor ist dem Menschen gegenüber grundsätzlich nicht feindselig eingestellt, hat bis heute nie auch nur ein Ohr angelegt oder gar gedroht oder geschlagen. Er hatte einfach eine schier unglaubliche Unsicherheit in sich. Kathrin Hügli traf bewusst die Entscheidung, es zu probieren und damit sich und Sandor eine Chance zu geben: «Manch Träne habe ich vergossen, wenn er sich zurückzog und nein sagte, nur weil ich eine etwas schnellere Bewegung machte. Ich durfte Sandor nicht mit meinen vorherigen Pferden vergleichen und akzeptieren, dass hier Welten aufeinanderprallen».

Eine unglaubliche Herausforderung

Sandor hat seine Besitzerin gelehrt, achtsam zu sein, einen langen Atem zu haben, ein Ziel vor Augen zu verfolgen, auch wenn da ganz viele Fragezeichen warten: «Das Arbeiten mit ihm war für mich auch eine Ablenkung und half mir über eine schwierige persönliche Zeit hinweg. Es gab aber auch Momente, da wollte ich nur noch aufhören, fühlte mich zu alt. So eine Herausforderung hatte ich bis anhin nie kennengelernt und heute kann ich sagen, dass ich unermesslich viel gelernt habe in dieser Zeit. Vom ‘einfach satteln und drauflos Reiten’ zum ‘ganz sachte eine Halfter überstreifen können und jeden einzelnen Schritt überdenken’, das ist schon ein grosser Unterschied». Auch wenn es nach Aussen den Anschein geben mag, dass Sandors Fortschritte nur klein sind, so sind es doch grosse Schritte für Kathrin Hügli: «Heute kann ich ihm das Halfter hinhalten und er schlüpft selber rein. Auch wenn ich heute neben ihm hüpfe, versetzt ihn das nicht mehr in einen Angstzustand, sondern er bleibt ziemlich gelassen stehen. Wenn ich an Ort hüpfe, heisst das für ihn, dass er zu mir kommen soll und auch das klappt schon recht gut».

Sandor bei der Freiarbeit

Unterstützung von allen Seiten

Kathrin Hügli hat bemerkt, dass es Sandor beruhigt, wenn sie zuerst immer etwas bei ihm steht, das gibt ihm Sicherheit. Sie beschäftigt das Pferd mit viel Frei- und Bodenarbeit, longiert ihn und baut in kleinen Sequenzen ein Vertrauensverhältnis auf. Gerade die Elemente aus der Freiarbeit sind dienlich, um das Zutrauen wachsen zu lassen. So läuft sie viel auf Schulterhöhe mit ihm, arbeitet mit zwei Peitschen, dirigiert ihn Schrittweise vor und zurück. Anhalten, Kopf senken, ruhig stehen bleiben sind weitere Übungen, welche die beiden regelmässig in Ruhe angehen. Spaziergänge sind heute kein Kraftakt mehr und Kathrin Hügli hat einen gelassenen Sandor neben sich, der sich auch im Strassenverkehr souverän verhält. Parallel dazu schaut Kathrin Hügli, dass sie alle Möglichkeiten in Betracht zieht, Sandor auch in gesundheitlicher Hinsicht zu unterstützen, wo es geht. So wurden Punkte im Rücken gelöst bei Akupunktur-Behandlungen und eine Tierärztin zeigte Kathrin Hügli Übungen, um sein Körperbewusstsein zu stärken und den Rücken besser zu wölben. Sandors Fütterung wurde umgestellt, er bekommt Kräuter, die ihm guttun und all diese Vorkehrungen und Massnahmen haben dem Pferd weitergeholfen.

Band des Vertrauens wächst

Sandors Besitzerin bekam viele Tipps. Manche waren Gold wert, manche unrealisierbar und vor allem der Rat, das Pferd wegzugeben, fruchtete nie. «Natürlich kommen immer wieder neue Herausforderungen auf uns zu, aber ich will meinen Weg mit Sandor weitergehen. Ich habe auch viele aufmunternde Worte gehört und Zuspruch von Menschen, die meine Probleme nachvollziehen können, das tut gut». Kathrin Hügli hat gelernt, sich nicht Druck aufsetzen zu lassen, sondern ihr Ding durchzuziehen, auch wenn Leute aus ihrem Umfeld nicht verstehen können, warum sie Sandor noch nicht reitet: «Natürlich ist es mein Ziel, Sandor zu reiten. Aber ich habe keinen fixen Zeitpunkt, wann dieser Moment da ist. Ich geniesse es, wenn Sandor gelöst und locker an der Longe läuft, sich auf mich konzentriert und mit Freude an der Arbeit ist. Er hat unglaubliche Fortschritte erzielt und gibt mir so viel. Wir arbeiten gerade an neuen Sachen in der Freiarbeit, vermittelt von Ruth Herrmann, und ich bin sicher, dass er irgendwann zulassen wird, dass ich ihn reite. Es braucht einfach Geduld und wir nehmen eines nach dem Anderen».

Text und Bilder:Karin Rohrer

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